FRAU AVA LITERATURPREIS

Rede zur Verleihung des Frau Ava Preises, 24. April 2023

Rede von Frau Simone Hirth

 

Es hat nicht den Moment gegeben, in dem ich angefangen habe. Ich habe es einfach, sobald ich es konnte, getan: geschrieben.
Und irgendwann gab es einen Deutschlehrer, der sagte: Das ist Literatur. Und dann gab es einen guten, guten Freund, der sagte: Das bist du. Du musst das machen. Mach bitte weiter.
Und es gab meine Eltern, die mich machen ließen. Die – trotz aller berechtigter Vorbehalte und Zweifel, die sie hatten, als ich ihnen eröffnete, Schriftstellerin werden zu wollen – sagten: Wenn du das wirklich willst, dann geh hinaus in die Welt und mach es. Meine Eltern, die mich also hinaus in die Welt gehen ließen, mit 19 nach Berlin, zum Leben Aufsaugen, und dann weiter nach Leipzig, zum Studieren. Meine Eltern, die mich gehen und machen ließen und mir stets das Gefühl gaben, dass sie da waren, da sein würden, falls etwas schief gehen würde, im Fall aller Fälle. Und das, obwohl sie, ganz sicher, nicht sorgenfrei auf meinen gewählten Weg blickten, sich vielleicht eine bodenständigere, finanziell und auch allgemein abgesichertere Laufbahn für ihre jüngste Tochter vorgestellt hätten. Meine Eltern, die mir die Miete für meine erste selbst gewählte Hinterhofabsteige in Berlin und die Miete für mein erstes WG-Zimmer in Leipzig zahlten, und bald schon trug mich das Schreiben und sämtliche damalige Nebenjobs, sodass meine Eltern mir, und darauf war ich stolz, nichts mehr zahlen mussten. Und meine Eltern, die trotzdem: dablieben. Meine Eltern, die heute und in all den Jahren, seit ich ein Kind habe, größtenteils dieses Kind betreuten und betreuen, wenn ich Lesungen habe, Seminare gebe und Tagungen besuche, was es mir überhaupt erst möglich macht, als Autorin zu überleben. Ich möchte meinen Eltern also an dieser Stelle ein weiteres Mal von Herzen danken, für all das.

Aber zurück zu früher. Dank dem Deutschlehrer und dem Freund und meinen Eltern, und dank einer sehr lauten Stimme in meinem Bauch, die stets sagte: Tu es! - habe ich also, damals, viel früher, ohne nachzudenken, immer weitergemacht. Immer weitergeschrieben.
Der Bleistift, sein sanftes Kratzen über das Papier, und ich.
Die mechanische Schreibmaschine, ihr lautes Klappern, das Papier, und ich. Später dann, viel später tatsächlich, und bis jetzt: Die Tastatur, ihr beständiges Klickern, und ich.

Der Akt des Schreibens war für mich immer intim, lebendig, wahrhaftig, vertraut, verlässlich, sicher, bewusst, befreiend, überlebenswichtig, anstrengend und schön.

Die Wörter, und ich.

Ich habe also lange, während ich vor allem eines tat: Schreiben – ich habe lange nicht gewusst, nicht geahnt, nicht für möglich gehalten, ja, ich war so naiv, nicht damit zu rechnen, dass mir dies je zum Vorwurf gemacht werden könnte: dass ich schreibe. Und was ich schreibe. Dass es – in diesem Jahrhundert, auf diesem Kontinent, in diesem Land wohlgemerkt – ein Thema werden könnte, dass ich eine Frau bin, die schreibt. Und eben kein Mann. Ich habe nicht geahnt, dass eine Zeit kommen würde, in der ich mir jedes Wort, das ich schreibe – auch wenn es für mich stets wahre und in sich, für sich, unschuldige Wörter sind – dass ich mir jedes Wort also gut überlegen muss. Sehr gut sogar. Weil diese Wörter gegen mich verwendet werden könnten. Weil ich – um es beim Namen zu nennen – Angst hatte, Angst haben musste und muss, dass diese Wörter, die ich zu literarischen Texten zusammensetze, in einem völlig aus diesem Kontext gerissenen Zusammenhang auf mich zurückgeworfen, auf mir abgeladen und ausgebreitet und bis zur Unkenntlichkeit ins Negative verdreht werden. Und ich meine nicht abgeladen und ausgebreitet und bis zur Unkenntlichkeit ins Negative verdreht auf mir als Autorin. Sondern auf mir persönlich, privat, als Frau, als Mutter vor allem. Und damit auch auf meinem Kind.
Um mein Kind zu schützen und ihm gleichzeitig eine ehrliche Mutter zu sein, überlege ich mir heute jedes Wort, das ich schreibe, mehr als ausgiebig. Auch die Wörter, jedes einzelne, in der Erzählung, für die ich nun diesen Preis erhalte, habe ich mir lange und genau überlegt. Ich habe sie mir, und das mag pathetisch kingen, trifft es aber doch: tatsächlich unter Schweiß und Tränen abgerungen, aus dem Innersten herausgeschnitten, herausgepresst, gedreht und gewendet und abgewogen und verfremdet und anders wahr gemacht, bis dieser Text daraus wurde. Und ich muss zugeben: Ich habe lange überlegt, ob dieser Text überhaupt hinaus sollte in die Welt. Ob er und sein Inhalt öffentlich werden können und dürfen. Nicht, weil ich am Inhalt des Textes oder am Text selbst zweifle. Sondern weil es mir leicht, erschreckend leicht, als Frau und Mutter um die Ohren fliegt, wenn ich über etwas schreibe, das eigentlich unter dem Teppich verschwinden sollte. Oder anderswo. Jedenfalls: Weg damit! Ruhe! Kein Wort mehr darüber, sonst -
Weil es mir, ja, tatsächlich, gefährlich oder mindestens zu einem großen, tiefgreifend einschneidenden Nachteil werden kann, dass ich diesen Text schrieb und ihn nun hiermit veröffentlicht habe. Weil es in diesem Text, wie es dem Wesen der Literatur und der Kunst im Allgemeinen entspricht, viel verdichtete Wirklichkeit gibt, und Zitate, die in dieser Wirklichkeit verwurzelt sind: Kommen Sie aus ihrer Opferrolle heraus. Seien Sie vorsichtig mit dem Wort Gewalt. Und dichten Sie, dem Kind zuliebe,
doch einfach über
andere Dinge.

Ich dachte lange, und ich muss annehmen, dass viele, nämlich all jene, die noch nicht in eine solchermaßen prekäre Lage geraten sind, dies noch denken: Die Zeiten, in denen für Autorinnen und Autoren das, was sie literarisch schreiben, gefährlich werden kann, seien längst vorbei. Jedenfalls doch in einer demokratischen Republik wie Österreich, in Europa.
Ich habe die Freiheit der Kunst für selbstverständlich gehalten.
Ich habe der Tatsache, dass ich eine Frau bin, die schreibt, und eben kein Mann, lange für irrelevant gehalten.

Ich war arglos.
Ich habe mich in vielem getäuscht.

Ich weiß heute, jetzt und hier, dass es anders ist. Ganz anders. Dass vieles noch immer im Argen liegt. Dass Gleichberechtigung und Gewaltschutz noch lange keine selbstverständlichen Tatsachen, noch nicht ansatzweise ausreichend erreicht sind. Und ich weiß heute, dass zuletzt der Umstand, eine Autorin zu sein und kein Autor, durchaus eine Herausforderung bedeutet. Dass es ein subtiler, leicht abzutuender, aber doch ein todernster Kampf ist, gehört zu werden und verstanden und respektiert. Und nicht niedergedrückt zu werden. Herabgewürdigt. Eingeschüchtert. Beleidigt. Aufs niedrigste persönlich degradiert.

Dieser Preis, den ich heute erhalte, ist nach einer Dichterin benannt, und ich möchte an dieser Stelle eine andere, von mir sehr geschätzte Dichterin zu Wort kommen lassen. Die folgenden Zeilen von Mascha Kaléko begleiten mich seit langem und sie drücken mehr aus, als ich in einer seitenlangen Rede vielleicht wirklich zum Thema sagen kann:

Worte in den Wind

Du zahlst für jedes kleine Wort auf Erden,
Für jedes Mal, da du das Schweigen brichst.
So tief du liebst, wirst du verwundet werden
Und mißverstanden, fast sooft du sprichst.

Es gilt, denke ich, trotz allem, immer weiter zu sprechen. Und weiter zu lieben. Und weiter zu schreiben. Und in Kauf zu nehmen, dass der Wind einem dabei womöglich weiterhin aufs Eisigste entgegenweht. Umwehen kann er eine, denke ich, nicht, solange sie die Sprache und die Liebe hat. Umwehen kann eine der Wind nur, wenn sie hasst und schweigt.

Ich freue mich besonders und danke der Jury sehr, dass ich heute für gerade diesen Text gerade diesen Preis entgegen nehmen darf.
Einen Preis, der nicht nach irgendeiner, sondern nach der ersten Dichterin in deutscher Sprache benannt ist. Einen Preis, der damit, durch seine pure Existenz also, sagt: Eine hat damit angefangen, also macht weiter! Schreibt, ihr Frauen! Sprecht! Haltet alles fest in Worten! Und macht diese Worte haltbar auf dem Papier! Verliert sie nicht! Schweigt nicht! Lasst euch nicht zum Schweigen bringen! Traut euch die Poesie zu, macht sie euch zur Freundin, zum Werkzeug, und wenn es sein muss, und das muss es leider vielleicht noch öfter: zur Waffe.
Frau Ava hat es getan. Mascha Kaléko hat es getan. Und so taten und tun es – zum Glück! - viele, viele andere großartige Autorinnen neben ihnen auch.
Und da wir uns heute in einer Kirche befinden, ist es am Schluss vielleicht auch angebracht, noch ein Glaubensbekenntnis auszusprechen. Ich gebe zu, dass ich bis heute nicht sicher bin, ob ich an Gott glauben kann, will und soll. Und ich habe an vieles andere geglaubt, wie den obigen Zeilen sicher zu entnehmen ist, und bin von vielem enttäuscht und mitunter schockiert worden, wie es vielleicht zum Leben gehört.
Dennoch glaube ich, noch immer. Ich glaube nämlich an das Wort. Ich glaube an die Sprache. Ich glaube, wie ich oben erwähnt, trotz allem, an die Kraft der Poesie. Ich glaube, dass Dinge, die verändert werden müssen, zumindest im Kleinen verändert werden können durch Poesie. Und ja, vielleicht nur im Kleinen. Aber wenn man bzw. frau nicht im Kleinen anfängt, zu sprechen, zu schreiben – wie soll es dann gehen? Wie soll, ohne Worte, etwas anders und besser werden?

Ich möchte am Ende, hier und jetzt und in aller Öffentlichkeit, noch darauf hinweisen, auch wenn es vielleicht an dieser Stelle unpassend oder irritierend erscheinen mag: Es hat in Österreich allein im bis jetzt noch sehr jungen Jahr 2023 bereits 8 Femizide gegeben (statistisch aufgezeichnet von den AÖF – Autonomen österreichischen Frauenhäusern - Stand: 6.4.2023). Aktuelle Ergänzung: Am vergangenen Samstag, den 22.4.2023, vorgestern, gab es in Graz den heuer 9. Femizid.
Im Jahr 2022 gab es 28 Femizide in Österreich (laut statistischen Aufzeichnungen der AÖF).
Es gibt Femizid-Zahlen für Deutschland. Es gibt Femizid-Zahlen weltweit. Jede einzelne dieser Frauen hinter diesen Zahlen hatte ihre eigene Geschichte. Diesen Frauen wurde (von Männern) die Möglichkeit genommen, ihre Geschichten zu erzählen. Es sollten diese Geschichten jedoch nun von uns angeschaut, laut erzählt, gut verglichen und vor allem: ernst genommen werden.



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