Es hat nicht den Moment gegeben, in dem ich angefangen habe. Ich habe es einfach,
sobald ich es konnte, getan: geschrieben.
Und irgendwann gab es einen Deutschlehrer, der sagte: Das ist Literatur.
Und dann gab es einen guten, guten Freund, der sagte: Das bist du. Du musst das
machen. Mach bitte weiter.
Und es gab meine Eltern, die mich machen ließen. Die – trotz aller berechtigter
Vorbehalte und Zweifel, die sie hatten, als ich ihnen eröffnete, Schriftstellerin werden
zu wollen – sagten: Wenn du das wirklich willst, dann geh hinaus in die Welt und
mach es. Meine Eltern, die mich also hinaus in die Welt gehen ließen, mit 19 nach
Berlin, zum Leben Aufsaugen, und dann weiter nach Leipzig, zum Studieren. Meine
Eltern, die mich gehen und machen ließen und mir stets das Gefühl gaben, dass sie da
waren, da sein würden, falls etwas schief gehen würde, im Fall aller Fälle. Und das,
obwohl sie, ganz sicher, nicht sorgenfrei auf meinen gewählten Weg blickten, sich
vielleicht eine bodenständigere, finanziell und auch allgemein abgesichertere
Laufbahn für ihre jüngste Tochter vorgestellt hätten. Meine Eltern, die mir die Miete
für meine erste selbst gewählte Hinterhofabsteige in Berlin und die Miete für mein
erstes WG-Zimmer in Leipzig zahlten, und bald schon trug mich das Schreiben und
sämtliche damalige Nebenjobs, sodass meine Eltern mir, und darauf war ich stolz,
nichts mehr zahlen mussten. Und meine Eltern, die trotzdem: dablieben. Meine
Eltern, die heute und in all den Jahren, seit ich ein Kind habe, größtenteils dieses
Kind betreuten und betreuen, wenn ich Lesungen habe, Seminare gebe und Tagungen
besuche, was es mir überhaupt erst möglich macht, als Autorin zu überleben. Ich
möchte meinen Eltern also an dieser Stelle ein weiteres Mal von Herzen danken, für
all das.
Aber zurück zu früher. Dank dem Deutschlehrer und dem Freund und meinen Eltern,
und dank einer sehr lauten Stimme in meinem Bauch, die stets sagte: Tu es! - habe ich
also, damals, viel früher, ohne nachzudenken, immer weitergemacht. Immer
weitergeschrieben.
Der Bleistift, sein sanftes Kratzen über das Papier, und ich.
Die mechanische Schreibmaschine, ihr lautes Klappern, das Papier, und ich.
Später dann, viel später tatsächlich, und bis jetzt: Die Tastatur, ihr beständiges
Klickern, und ich.
Der Akt des Schreibens war für mich immer intim, lebendig, wahrhaftig, vertraut,
verlässlich, sicher, bewusst, befreiend, überlebenswichtig, anstrengend und schön.
Die Wörter, und ich.
Ich habe also lange, während ich vor allem eines tat: Schreiben – ich habe lange nicht
gewusst, nicht geahnt, nicht für möglich gehalten, ja, ich war so naiv, nicht damit zu
rechnen, dass mir dies je zum Vorwurf gemacht werden könnte: dass ich schreibe.
Und was ich schreibe. Dass es – in diesem Jahrhundert, auf diesem Kontinent, in
diesem Land wohlgemerkt – ein Thema werden könnte, dass ich eine Frau bin, die
schreibt. Und eben kein Mann. Ich habe nicht geahnt, dass eine Zeit kommen würde,
in der ich mir jedes Wort, das ich schreibe – auch wenn es für mich stets wahre und in
sich, für sich, unschuldige Wörter sind – dass ich mir jedes Wort also gut überlegen
muss. Sehr gut sogar. Weil diese Wörter gegen mich verwendet werden könnten. Weil
ich – um es beim Namen zu nennen – Angst hatte, Angst haben musste und muss,
dass diese Wörter, die ich zu literarischen Texten zusammensetze, in einem völlig aus
diesem Kontext gerissenen Zusammenhang auf mich zurückgeworfen, auf mir
abgeladen und ausgebreitet und bis zur Unkenntlichkeit ins Negative verdreht
werden. Und ich meine nicht abgeladen und ausgebreitet und bis zur Unkenntlichkeit
ins Negative verdreht auf mir als Autorin. Sondern auf mir persönlich, privat, als
Frau, als Mutter vor allem. Und damit auch auf meinem Kind.
Um mein Kind zu schützen und ihm gleichzeitig eine ehrliche Mutter zu sein,
überlege ich mir heute jedes Wort, das ich schreibe, mehr als ausgiebig. Auch die
Wörter, jedes einzelne, in der Erzählung, für die ich nun diesen Preis erhalte, habe ich
mir lange und genau überlegt. Ich habe sie mir, und das mag pathetisch kingen, trifft
es aber doch: tatsächlich unter Schweiß und Tränen abgerungen, aus dem Innersten
herausgeschnitten, herausgepresst, gedreht und gewendet und abgewogen und
verfremdet und anders wahr gemacht, bis dieser Text daraus wurde. Und ich muss
zugeben: Ich habe lange überlegt, ob dieser Text überhaupt hinaus sollte in die Welt.
Ob er und sein Inhalt öffentlich werden können und dürfen. Nicht, weil ich am Inhalt
des Textes oder am Text selbst zweifle. Sondern weil es mir leicht, erschreckend
leicht, als Frau und Mutter um die Ohren fliegt, wenn ich über etwas schreibe, das
eigentlich unter dem Teppich verschwinden sollte. Oder anderswo. Jedenfalls: Weg
damit! Ruhe! Kein Wort mehr darüber, sonst -
Weil es mir, ja, tatsächlich, gefährlich oder mindestens zu einem großen, tiefgreifend
einschneidenden Nachteil werden kann, dass ich diesen Text schrieb und ihn nun
hiermit veröffentlicht habe. Weil es in diesem Text, wie es dem Wesen der Literatur
und der Kunst im Allgemeinen entspricht, viel verdichtete Wirklichkeit gibt, und
Zitate, die in dieser Wirklichkeit verwurzelt sind: Kommen Sie aus ihrer Opferrolle
heraus. Seien Sie vorsichtig mit dem Wort Gewalt. Und dichten Sie, dem Kind
zuliebe,
doch einfach über
andere Dinge.
Ich dachte lange, und ich muss annehmen, dass viele, nämlich all jene, die noch nicht
in eine solchermaßen prekäre Lage geraten sind, dies noch denken: Die Zeiten, in
denen für Autorinnen und Autoren das, was sie literarisch schreiben, gefährlich
werden kann, seien längst vorbei. Jedenfalls doch in einer demokratischen Republik
wie Österreich, in Europa.
Ich habe die Freiheit der Kunst für selbstverständlich gehalten.
Ich habe der Tatsache, dass ich eine Frau bin, die schreibt, und eben kein Mann, lange
für irrelevant gehalten.
Ich war arglos.
Ich habe mich in vielem getäuscht.
Ich weiß heute, jetzt und hier, dass es anders ist. Ganz anders. Dass vieles noch
immer im Argen liegt. Dass Gleichberechtigung und Gewaltschutz noch lange keine
selbstverständlichen Tatsachen, noch nicht ansatzweise ausreichend erreicht sind.
Und ich weiß heute, dass zuletzt der Umstand, eine Autorin zu sein und kein Autor,
durchaus eine Herausforderung bedeutet. Dass es ein subtiler, leicht abzutuender, aber
doch ein todernster Kampf ist, gehört zu werden und verstanden und respektiert. Und
nicht niedergedrückt zu werden. Herabgewürdigt. Eingeschüchtert. Beleidigt. Aufs
niedrigste persönlich degradiert.
Dieser Preis, den ich heute erhalte, ist nach einer Dichterin benannt, und ich möchte
an dieser Stelle eine andere, von mir sehr geschätzte Dichterin zu Wort kommen
lassen. Die folgenden Zeilen von Mascha Kaléko begleiten mich seit langem und sie
drücken mehr aus, als ich in einer seitenlangen Rede vielleicht wirklich zum Thema
sagen kann:
Worte in den Wind
Du zahlst für jedes kleine Wort auf Erden,
Für jedes Mal, da du das Schweigen brichst.
So tief du liebst, wirst du verwundet werden
Und mißverstanden, fast sooft du sprichst.
Es gilt, denke ich, trotz allem, immer weiter zu sprechen. Und weiter zu lieben. Und
weiter zu schreiben. Und in Kauf zu nehmen, dass der Wind einem dabei womöglich
weiterhin aufs Eisigste entgegenweht. Umwehen kann er eine, denke ich, nicht,
solange sie die Sprache und die Liebe hat. Umwehen kann eine der Wind nur, wenn
sie hasst und schweigt.
Ich freue mich besonders und danke der Jury sehr, dass ich heute für gerade diesen
Text gerade diesen Preis entgegen nehmen darf.
Einen Preis, der nicht nach irgendeiner, sondern nach der ersten Dichterin in
deutscher Sprache benannt ist. Einen Preis, der damit, durch seine pure Existenz also,
sagt: Eine hat damit angefangen, also macht weiter! Schreibt, ihr Frauen! Sprecht!
Haltet alles fest in Worten! Und macht diese Worte haltbar auf dem Papier! Verliert
sie nicht! Schweigt nicht! Lasst euch nicht zum Schweigen bringen! Traut euch die
Poesie zu, macht sie euch zur Freundin, zum Werkzeug, und wenn es sein muss, und
das muss es leider vielleicht noch öfter: zur Waffe.
Frau Ava hat es getan. Mascha Kaléko hat es getan. Und so taten und tun es – zum
Glück! - viele, viele andere großartige Autorinnen neben ihnen auch.
Und da wir uns heute in einer Kirche befinden, ist es am Schluss vielleicht auch
angebracht, noch ein Glaubensbekenntnis auszusprechen. Ich gebe zu, dass ich bis
heute nicht sicher bin, ob ich an Gott glauben kann, will und soll. Und ich habe an
vieles andere geglaubt, wie den obigen Zeilen sicher zu entnehmen ist, und bin von
vielem enttäuscht und mitunter schockiert worden, wie es vielleicht zum Leben
gehört.
Dennoch glaube ich, noch immer. Ich glaube nämlich an das Wort. Ich glaube an die
Sprache. Ich glaube, wie ich oben erwähnt, trotz allem, an die Kraft der Poesie. Ich
glaube, dass Dinge, die verändert werden müssen, zumindest im Kleinen verändert
werden können durch Poesie. Und ja, vielleicht nur im Kleinen. Aber wenn man bzw.
frau nicht im Kleinen anfängt, zu sprechen, zu schreiben – wie soll es dann gehen?
Wie soll, ohne Worte, etwas anders und besser werden?
Ich möchte am Ende, hier und jetzt und in aller Öffentlichkeit, noch darauf
hinweisen, auch wenn es vielleicht an dieser Stelle unpassend oder irritierend
erscheinen mag: Es hat in Österreich allein im bis jetzt noch sehr jungen Jahr 2023
bereits 8 Femizide gegeben (statistisch aufgezeichnet von den AÖF – Autonomen
österreichischen Frauenhäusern - Stand: 6.4.2023). Aktuelle Ergänzung: Am
vergangenen Samstag, den 22.4.2023, vorgestern, gab es in Graz den heuer 9.
Femizid.
Im Jahr 2022 gab es 28 Femizide in Österreich (laut statistischen Aufzeichnungen der
AÖF).
Es gibt Femizid-Zahlen für Deutschland. Es gibt Femizid-Zahlen weltweit.
Jede einzelne dieser Frauen hinter diesen Zahlen hatte ihre eigene Geschichte. Diesen
Frauen wurde (von Männern) die Möglichkeit genommen, ihre Geschichten zu
erzählen. Es sollten diese Geschichten jedoch nun von uns angeschaut, laut erzählt,
gut verglichen und vor allem: ernst genommen werden.