FRAU AVA LITERATURPREIS

Dankesrede,17. November 2021, Gertrude Maria Grossegger

sind aufsteigend
worte sind
aufsteigend

worte steigen
auf worte
und sind

so ganz
konkret wie

ein
ganz
konkretes bild

will mir dieses
lied in
die
rillen singen

wenn wir zwei
ziehen
losziehen

graslieder innen

sind wir
zusammen
ein strauß

sind wir prall wie pralinen
mit altersstich
weibliche wiesen

liegen mir blätter
im bauch
von gestern

mir geht der körper fort
bald bin ich
meinen flügeln treu
voll schrift sind sie

der ton im körper
wird die form die
du dann brennst

so sind
wir dann
skulptur

ein fersenbein
ein nasenflügel
ein scheitelhaar
ein zehenspitz

ein ellenbogen
ein zungenschlag. 1*

Sehe mich.

im Internat, im Freien an der warmen Hausmauer sitzend, die Literaturgeschichte studieren, habe vor, in Deutsch zu maturieren.

Schwester Paula, eine für mich sehr wichtige Professorin, ohne die ich nie zum Schreiben gekommen wäre, war meine Deutschlehrerin. Sie hat die Begeisterung für die Literatur, für das Theater geweckt, Veranstaltungen im „Steirischen Herbst“ mit uns besucht, Theater mit uns gespielt und, für mich sehr bedeutend für meine spätere Entwicklung, eine Schriftstellerin an die Schule gebracht, die mir das Herz für Lyrik geöffnet hat, und das war Doris Mühringer. Auch während meiner pädagogischen Ausbildung ist sie immer wieder nach Graz gekommen, habe sie zu einer Lesung an die Akademie eingeladen, meine Abschlussarbeit über sie geschrieben, sie auch danach immer wieder getroffen. Wir haben uns Briefe und Karten zugeschickt, uns gegenseitig besucht. Sie hat meinen ersten Gedichtband „abgesegnet“, und das war ein auf das Manuskript gepicktes Post-it mit dem Wort „Bravo“. Das war sehr viel. Sie hat wenig gesagt zu meinem Schreiben, mein Schreiben sehr kritisch beobachtet. Berechtigt. Bin dennoch nicht davon abgekommen. Hab von ihr gelernt, genau mit dem Wort, genau mit der Sprache zu sein, und ihr Arbeiten war ein solches. Sie hat es zum Prinzip erhoben, nie leichtfertig etwas loszulassen, da war sie streng, vor allem mit sich selbst. Es braucht einen starken Impuls, eine starke Stimme anfangs, bis die eigene Stimme selbst soweit ist, dass sie ruft, dass ich selbst soweit bin, dass ich sie höre. Die Suche nach der eigenen Stimme, nach meiner Sprache, wird wohl nie enden und nie werde ich sagen können, „jetzt bin ich fertig“.

Doris Mühringer hat meinen Schreibton geprägt, hab anfangs - wie unauffällig für mich - ihren Ton einfließen lassen, wusste nicht, wie stark sich Rhythmus und Klang, ästhetische Verfahrensweisen von Doris Mühringer bei mir einnisteten, etwa die Wiederholungen, das Auf-dem-Stand-Treten, ein Wort insistierend noch einmal und noch einmal zu sagen, vielleicht nur in Abweichungen, um die Bedeutung zu betonen, um das Wort aus der Allgemeinsprache zu heben, um es anders zu sagen, dass es eindringlicher wird, dass das „Darüber-Gehen“ vermieden wird, dass es aufhält, das Wort, dass es „herausfällt“, dass es zum Anhalten verlockt.

Das Reduzieren, das lernte ich von Doris Mühringer, lerne es immer noch, und nicht nur das. Das Sehen als „oberstes Gebot“, das weniger ein Sehen ist, mehr eine Art Sein. Genaues Beobachten, den Blick einstellen und wie mit dem Objektiv einer Kamera nachschärfen, und den anderen Blick aufsetzen, den der Poesie, und porös bleiben, dass einsickern kann, was draußen ist.

Ein Draußen gibt es. Ein Drinnen.

Bin draußen. Bin drinnen. Muss filtern, muss achtsam sein, bin immer dort und da gleichzeitig, und doch manchmal mehr im einen und dann wieder mehr im anderen.

Zum Sehen kommen.

Die Welt sehen, sich nicht mit einem Darüber-hinweg-Blick nehmen lassen, was Welt sein könnte, und die kann mehr sein, als sie mir täglich vordergründig erscheint.

Die Sprache kann sich mir verschließen, so sehe ich auch keine Welt. Habe ich meine Sprache, habe ich meine Welt. Sie bleibt ein Versuch.

Das Suchen. Ein Versuch.

Nach Albert Camus könnte ich mir Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen, durchdrungen von der verborgenen Freude, den Stein immer wieder aufs Neue zu ergreifen, das Versuchen immer wieder zu versuchen, um über den beständigen Versuch, dem „direkten Sein“ näher zu kommen - als Voraus-Setzung für das Leben selbst.

Dû bist mîn, ich bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in mînem herzen,
verlorn ist das sluzzelîn:
dû muost ouch immêr darinne sîn.

Ein Gedicht, dieses Gedicht, so lange begleitet es mich schon.

Ich vermutete bislang, die Verfasserin sei unbekannt, so wie es auch im Buch „Minnesangs Frühling“ (1857) der anonymen Literatur des 12. Jahrhunderts zugerechnet wird.

Nach den Ausführungen von Herrn Pater Udo Fischer in: Historische Hintergründe der Erzählung „Frau Ava“ von Lene Mayer-Skumanz - was für ein schönes Buch - lese ich, dass Willis Barnstone das Gedicht Frau Ava zuschreibe, dass dieses Gedicht, nach Ausführungen jenes amerikanischen Dichters, Übersetzers und Religionswissenschaftlers von Frau Ava verfasst oder ins Deutsche übersetzt worden sei. 2*

Was für eine Fügung, vielleicht immer schon ein Gedicht von Frau Ava mit mir „herumgetragen“ zu haben.

Fügung. Was für ein Wort. Was verbirgt sich hinter dem Wort?

geheimnisse gibt es
und ein geheimnis ist ein geheimnis ist ein geheimnis
und papierene gehäuse gibt es dafür
und bildnisse gibt es dafür und fühler
und speicherorte gibt es dafür
und körper gibt es
und feinstoffliches
die häutung gibt es dafür
das nachvorschauen und das einschauen gibt es
das in die haut gegangene gibt es dafür
und das aufgeschriebene gibt es
das anhaltende gibt es und das hereinstürzende
die erde gibt es und den himmel gibt es dafür
und das weitere vom weiteren gibt es dafür

und wie es lautet
wie es durch die stille herausknistert
dieses launische rauschen der frequenzen
auf mich zuschießendes ins haupt zischendes

warte sag ich
warte
schon stürzt es herein
ist da und ist geworden

schön sag ich und gut
da ist was
ich kann sehen
sehe nicht
sehe nicht hinein
da drinnen ist noch was
noch ist da drinnen was
was ist da noch
ist da noch was

keine ahnung sagt das kind
und ahnt dass da was ist
ahnt mehr als ist
ahnt die eine welt der anderen welten
ahnt welten über welten 3*

Als Kind habe ich in der Kirche immer den gleichen Satz von der Kirchenbank aus gelesen und die einzelnen Wörter in Gedanken verschieden betont und die Wörter des immer gleichen Satzes verstellt. Mein Kirchenaufenthalt hat über die immer andere Gewichtung der Wörter und über die Wortverschiebungen eine zusätzliche Dimension erfahren, die den begrenzten Raum als Ausgangspunkt hatte, als Auslöser dafür, dass mein Geist, verstärkt durch die kirchlichen Rituale, wie das Beten von immer gleichen Litaneien und Versen, weit über den Kirchenraum hinausgetragen wurde.

Hl. Josef, bitte für uns
Hl. Maria, bitte für uns
Hl. Eustachius, bitte für uns
Hl. Blasius, bitte für uns
Hl. Barbara, bitte für uns
Hl. Katharina, bitte für uns
… Und so weiter.

Bitte auf den Bänken kein Licht anzünden, so stand es geschrieben, in Frakturschrift über der Kirchenbank, und so hat meine innere Stimme damit gespielt:

Bitte auf den Bänken kein Licht anzünden
Bitte auf den Bänken kein Licht anzünden
Bitte auf den Bänken kein Licht anzünden
Bitte auf den Bänken kein Licht anzünden
Bitte auf den Bänken kein Licht anzünden
Bitte auf den Bänken kein Licht anzünden
Bitte auf den Bänken kein Licht anzünden

Bitte auf anzünden den Licht kein Bänken
Anzünden bitte den auf Bänken kein Licht
Licht den Bänken auf bitte anzünden kein
… Und so weiter.

Als Kind habe ich mich gern mittels Zettelpost verständigt, mit etwa Sechzehn erste Gedichte verfasst, die verschlüsselte Sprache geliebt in den Gedichten von Doris Mühringer, mit ihnen spazieren gegangen, wenig begriffen, sie laut gelesen, auswendig aufgesagt, stumm in mich hineingesagt. Die unverstandenen Metaphern haben geklungen, der Klang hat mich eingehüllt und berührt.

Viel später erst habe ich Manches entschlüsselt, viel später erst habe ich Neues in das Entschlüsselte hineingesehen. Habe das Gedicht als ständige Begleitung gehabt, über die Sprache der anderen meine eigene Sprache entwickelt.

Wurde durch den intensiven Austausch mit anderen Schreibenden bestärkt, der Idee nachzugehen, das Icherleben, „der Boden“ für das Schreiben, zum lyrischen Ich zu transformieren, und so, als tonangebende Stimme im Geschriebenen verbleibend, die Möglichkeit zu haben, aus meiner eigenen Biographie „heraus zu sterben“, um „in der Schwindligkeit Wohnung zu nehmen“, Zitat Inger Christensen, um zu verreisen, äußerlich und innerlich.

Weggehen. Drauflosgehen.

Einen Weg aufgreifen. Ein Wort. Ein Satzfragment. Zu schreiben beginnen. Loszurollen wie eine winzige Lawine, den Hang hinunter, und immer mehr werden im immer weniger.

Hinuntergehen. Niederschreiben.

Das Schreiben, eine Hinunter-Bewegung, ein Nieder-Schreiben. weit hinunter / musst du / dass du / die käfer fühlst / die bienen / das kleine / die kinder / weit hinunter musst du / weit hinunter / und lange musst du dort sein / lange / über die zeit / hinhören / und zwischen den tönen / hören / zwischen / durch / hören / nicht bewegen / still / halten / atemwege lang / mit der zeit / landet / auf deiner schulter / das glück / vielleicht / in form / eines schmetterlings / und faltet / zitronen 4*

Das Schreiben, eine Sprachsuche.

mit dem schreiben ist es wie mit dem in den keller gehen / ein muss und ein unbehagen zuerst / und dann ein tiefes eintauchen und ein nicht anders können / und ein nichts anderes können als das und ein nachschauen / ein immerwährendes nachschauen was alles im keller ist und was alles nicht mehr ist / was alles dazugekommen ist und was sich alles im keller hält / und was nicht mehr erkennbar ist und was sich zurückgezogen hat unter den lehmboden / in die alte sandbefüllte emailbadewanne mit den verschrumpelten möhren und hinter die nischen und zwischen die bretter / als ob sich etwas unsichtbares hermachte über das eingelagerte / und wie sich dann das vermorschende bewegt / plötzlich ins bewegen kommt / und über mich herfällt / und auf dem körper zerbröselt und über den körper rieselt / und wie sich manches brösel in den hautritzen ablagert und einnistet / sich mehr und mehr verfeinert / zersetzt oder auflöst oder sich sammelt / gleich dem sand einer sanduhr / mehr und mehr wird / sich zu einem turm anhäuft / sich silben zu buchstaben / buchstaben zu staben / staben zu stäbchen / und stäbchen zu staub zerstäuben / um hervorgeholt zu werden / um ans licht geholt zu werden vor ihrem verschwinden / …

was ich außen wahrnehme / speichere ich innen ab / das eingelagerte verwandelt sich / wird etwas anderes / das eingelagerte wird stoff / er entspinnt sich im laufe der zeit / wird ausdruck meines inneren erlebens /

nehme den stoff / fertige kleider an / fertige wortkleider an für meine welt / netzhäute / werfe sie aus / stülpe sie der nackten welt über / erschaffe mir welt / kleide meine welt ein / verkleide meine welt /

die wortkleider ändern sich / jeder sieht die welt in einem anderen kleid / ziehe mir andere kleider über / lasse andere welten in mich hinein / die welt der anderen einzusehen bleibt ein versuch / aus den anderen welten werden neue / versehe die welt / mit worten /

das sehen / eine verwortung / die verwortung / eine versehung / die wortversehung eine suche nach welt / die welt eine versuchung / die welt ein versehen /

kann die welt nur in teilen sehen / kann durch die teile das ganze ahnen / alle welten zusammen ergeben eine welt / die eine welt gibt es nicht /

die welten hinterlassen spuren / um sie aufzuzeichnen übe ich / übe ich das handwerk / schleife und feile / schweiße und löte / baue ab und dazu / knete und forme / operiere / bringe zur sprache / bringe zur welt / schöpfe / verwerfe / werke / 5*

Alltägliches. Im Alltäglichen.

Und es ist überhaupt nicht alltäglich, wenn mitten in das Werken hinein etwas einwirkt, das den Atem nimmt, wenn mitten ins Alltägliche hinein ein Anruf kommt, der Augen machen lässt, und in meinem Fall, große und freudige, dank einer vermittelten Frohbotschaft.

„Sie haben gewonnen“, sagt sie, die freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung, und auf einmal ist da das Gefühl, ein Glückslos gezogen zu haben, die Freude groß und die Nachricht, dass dieser von mir eingereichte Text für den zehnten Frau Ava Literaturpreis ausgewählt worden sei, kaum zu fassen.

„Augen machen“, diese „Geschichte“, in ihrer Letztfassung von niemand anderem „geprüft“ als von mir, der ich zu vertrauen angehalten war, um den Mut aufzubringen, sie auch abzuschicken, schaffte es, mir „Augen zu machen“, mir über die wunderbare Nachricht ihrer Nominierung, die Sprache zu verschlagen und den 19. Februar 2021 mit einem Schlag in ein besonderes Licht zu rücken und das, obwohl es schon dämmerte.

Ich freue mich sehr, dass „meine Geschichte“ die Jurorinnen überzeugen konnte und dass ich heute diese wunderbare Auszeichnung für den Text Augen machen entgegennehmen darf.

Ganz herzlichen Dank, werte Frau Ava Literaturgesellschaft, für diese Ehrung, für die Verleihung des Ava Literaturpreises 2021 an mich und für den damit verbundenen Motivationsschub. Der Preis stärkt mein Schreiben, stärkt meine Arbeit, stärkt mich.

Ich danke der Frau Ava Literaturgesellschaft und allen, die mit ihr in Verbindung stehen, für die Förderung der Literatur, für die Förderung der Arbeit von Schriftstellerinnen, für das Andenken an Frau Ava, die als erste deutsch schreibende Dichterin vor neunhundert Jahren das mutige Vorhaben, Literatur, biblische Texte, den Menschen nahe zu bringen, nicht aus den Augen verlor.

Ich danke den Jurorinnen Christa Gürtler, Barbara Neuwirth, Claudia Sackl und Brigitte Schwens-Harrant für die Rezeption, für die Bereitschaft, sich mit den eingereichten Texten auseinanderzusetzen.

Ich danke der Jurorin Claudia Sackl für die Laudatio, für die umfassende, differenzierte und einfühlsame Textanalyse.

Ich danke Hubert Hladej für die Freundlichkeit, für die zahlreichen schönen Telefonate, für die stets ermunternden Worte, für die vorbereitenden Gespräche und Briefe, die Feier und die Lesungen betreffend.

Ich danke Leo Pfisterer für die besondere Gestaltung der Frau Ava Skulptur.

Ich danke für die Gastfreundschaft, für den festlichen Rahmen des heutigen Abends, der als Höhepunkt der Veranstaltungsreihe dieser Woche, dank Pater Udo Fischer, in der Kirche St. Altmann stattfinden kann.

Ich danke dem gesamten Team der Frau Ava Literaturgesellschaft unter der Obfrau Mag. Alice Klein für den persönlichen Einsatz rund um den Frau Ava Literaturpreis.

Und es sind noch einige Namen zu nennen, stellvertretend für viele, durch die ich überhaupt zu schreiben begonnen habe und die mich zum Weiterschreiben ermunterten.

Ich danke meiner Volksschullehrerin Cäcilia Wernigg, die mich gefördert hat.

Ich danke Doris Mühringer, die ich über meine Deutschprofessorin Schwester Paula Wagner sei Dank in der Klosterschule der Schulschwestern in Graz Eggenberg kennengelernt habe.

Ich danke Petra Ganglbauer für die behutsame und konsequente Arbeit bei den Schreibwerkstätten.

Und meiner Familie danke ich, und da besonders Urban, meinem Mann, für die Begleitung und Unterstützung.

1* Gertrude M. Grossegger / Günter Egger, grasfischen, 9. satz: fortziehend vielfältig, in: GRASFISCHEN / TRAVOLOVKE, in dreizehn Sätzen, Texte und Bilder, deutsch u. slowenisch, Verlag Bibliothek der Provinz, 2013

2* P. Udo Fischer, Historische Hintergründe der Erzählung „Frau Ava“, in: Frau Ava, Lene Mayer-Skumanz, Dachs Verlag, 2002

3* Gertrude M. Grossegger, Textteppich, 22 An-läufer, zur Ausstellungseröffnung „look and see“ von Krista Titz Tornquist & Walter Titz, Galerie Marenzi, Leibnitz, 2. März 2018

4* Gertrude M. Grossegger, im fluss, gedichte, Verlag Bibliothek der Provinz, 2004

5* Gertrude M. Grossegger, aus dem keller heraus / in den keller hinein, in: Schreibweisen Poetologien 2, Zeitgenössische österreichische Literatur von Frauen, Hg. Hildegard Kernmayer, Milena Verlag, 2010



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