FRAU AVA LITERATURPREIS

Laudatio

zu „Augen machen“ von Gertrude Maria Grossegger von Claudia Sackl

 

Ich habe nun die große Freude und Ehre, Ihnen im Namen der Jury den Preistext vorzustellen.

Für ihre lyrischen Texte wurde Gertrude Maria Grossegger bereits vielfach ausgezeichnet. Ihr erster, 2006 publizierter Prosaband „so stumm sind die fische nicht“ wurde im Klappentext mit den Worten eingeleitet: „ein Universum abbildend, das […] einen Sog entwickelt, dem man sich kaum entziehen kann.“ Ähnliches trifft auch auf jene Erzählung zu, für die wir die vielseitige Autorin heute auszeichnen wollen.

Aber lassen Sie uns zunächst noch einen Schritt zurücktreten.

Wenn ich für unsere Teilnehmer*innen bei den Literarischen Kursen oder der STUBE darlege, was Literatur so ganz grundlegend ausmacht, verweise ich gerne auf ihre besondere ästhetische Geformtheit. In der Literatur trägt nicht nur der Inhalt, sondern auch — und oft vor allem — die formale Gestaltung des Sprachmaterials besondere Bedeutung und verlang besondere Betrachtung.

„Augen machen“ von Gertrude Maria Grossegger ist ein Text, der sich seiner ästhetischen Geformtheit nicht nur bewusst ist, sondern diese auch meisterhaft in Dialog mit dem von ihm Beschriebenen treten lässt.

„Das musst du dir erst einmal anschauen, sagt sie zu sich selbst, das viele Laub hier. Das ist, als ob es alles zudeckte, die ganze Welt und über die Zeit, dann vor sich hin modert, wenn du es nicht wegtust, dieses Nussbaumlaub. Du verfaulst, glitscht aus, schlitterst wo hinein mit ihm. Ich sage dir, sagt sie zu sich selbst, es sind Rattenschwänze, diese langen Blattstiele sehen aus wie Rattenschwänze.

“ In fast mündlich anmutendem Sprachton beschreibt der Text „Augen machen“, der mit diesen eben gelesenen Worten beginnt, eine Frau, die in ihrem Haus irgendwo am Land aus dem Fenster auf ein laubbedecktes Draußen blickt. Wie bereits der Titel nahelegt, werden die Sinnlichkeit des Sehens — ebenso wie vielschichtige Momente des Er-blickens und Er-kennens — eine zentrale Rolle in der Erzählung spielen.

Jedoch richtet der Text seine Aufmerksamkeit nicht in erster Linie darauf, was die Figur äußerlich visuell wahrnehmen kann. Vielmehr wird das — in Form verschiedener sensorischer, einander überlagernder Eindrücke auf die Protagonistin eindringende — Draußen zum Ausdruck und Abbild jenes Drinnen, das in der namenlos bleibenden Figur „brodelt“, „lauert“, an die Oberfläche drängt.

„Das riecht hier schon so, nach Mäusen riecht es hier, das ist so ein anheimelnder Nestgeruch, so einer zum Davonlaufen. Das Anheimelnde, ein unheimlicher Mief, und wie er sich einschleicht ins Daheim. Die haben es sich schon fein gemacht im Geheimen […]. Ihr graut, was graut ihr, zu graut es sich. In ihr brodelts, so viel Hitze kommt heraus, Baumhitze. Sie ist wie ein Baum, muss ausquellen alles Harz. Der alte Reim will sich nicht reimen, nichts reimt sich, nur dass sich was zusammenbraut spürt sie, diese heimliche in dieses Land hineinverpflanzte Angst, wie sie sich anpirscht, ihr an den Leib geht.“

Ebenso wie drinnen und draußen in Gertrude Maria Grosseggers Text dialektisch miteinander verbunden sind, steht in der Erzählung auch das Geborgene ganz nah am Unheimlichen und Unbehaglichen, das Gewaltsame nah am Zärtlichen. Die Erinnerungen der Protagonistin an ihre Großmutter und ihren gemeinsamen Alltag in dem Haus sind rau, aber auch voller Herzlichkeit. Die Großmutter, die ihr als Mädchen Zöpfe ins nasse Haar flechtet. Die Großmutter, die aus stinkendem, ausgekochtem Knochenfett Seife herstellt, weil zu Hause nichts weggeworfen, nichts verschwendet wird. In diese Seifen schnitzt das Mädchen Augen; glotzende, fremde Augen, die heimlich in das Selbst eingezogen sind; eingepflanzte Ersatzaugen, die sich wie schleimige Parasiten im Eigenen einnisten. Die Ästhetik des Hässlichen und Ekligen, die Gertrude Maria Grossegger in ihrem Text entwirft, ist eng an das Körperliche und Materielle gebunden — und das muss man sich auch erst einmal trauen, dem Hässlichen und Ekligen so viel Raum zu geben.

Laut der britisch-australischen Kulturwissenschaftlerin Sarah Ahmed ist Ekel „ein zutiefst ambivalentes [Gefühl], das ein Begehren oder eine Anziehung gegenüber genau den Objekten beinhaltet, die als abstoßend empfunden werden“ (The Cultural Politics of Emotion, S. 84). Und auch in „Augen machen“ verschwimmen die Grenzen zwischen vermeintlichen Gegensätzen, wenn das Innere nach außen gekehrt wird und das Fenster zu einem Spiegel wird, in dem das Selbst nicht erkannt werden will.

Gleichzeitig besitzt Ekel auch eine biologische Schutzfunktion. Verdorbenes oder Giftiges spucken wir aus, versuchen wir zu meiden. Auch Gertrude Maria Grosseggers Protagonistin muss sich schützen: vor dem, was passiert ist vor vielen Jahren, vor dem, was sie gesehen hat.

Zurückgeworfen auf sich selbst richtet sie sich als erwachsene Frau nun an jenes „zweisame einsame Du“, wie es im Text heißt, das dieses Vergangene und Verdrängte hervorkehrt: Es sind beklemmende Erinnerungen, die in dem Haus — das die Protagonistin von ihrer Großmutter geerbt hat und in dem sie sich als Erwachsene nicht so recht heimelig fühlen will — durch die Risse an der Wand auf die Frau eindringen, sie ein- bzw. „heim[]hol[en]“. Denn ja, sie hat etwas gesehen, als Kind, als junges Mädchen, in der Holzhütte, „etwas, wofür es noch keine [Augen] gehabt hat bis dorthin“.

Die Andeutung eines sexuellen Übergriffes — und das ist ein weiterer Kunstgriff von Gertrude Maria Grossegger — verbleibt als solche. Sie wird nicht vereindeutigt, wird nicht detailreich voyeuristisch auserzählt. Sie darf verschwommen und uneindeutig bleiben. Aber sie ist da. Etwas ist passiert, das ist nicht wegzuleugnen.

Die Sprache, die der Figur im Text ermöglicht, das Gesehene in Worte zu fassen, kommt nur langsam, und sie passt nicht. „Rattenschwanzwörter“ sind es, die schwer wiegen.

Den Prozess des Zur-Sprache-Kommens, des Zur-Sprache-Bringens von dieserart tabuisierten gelebten Erfahrungen einer Frau nähert sich Gertrude Maria Grossegger in ihrer Erzählung, in der das Äußere erst durch das Innere hervorgebracht wird, Wort-bedacht an. Zunehmend verheddert sich die Protagonistin in ihren Gedanken und Gefühlen, die sich scheinbar assoziativ aneinanderfügen. Spiralförmig entsteht ein Fragment aus dem nächsten, bildet sich ein Laut, ein Wort aus dem vorangegangenen, wobei sich Klang, Rhythmus und Semantik poetisch-intensiv verdichten.

Ihren Blick richtet die namenlose Frau — die als solche auch für viele Frauen stehen kann — bewusst nach draußen durch das Fenster, um sich, wie es im Text heißt, „frei[zu]schauen […] von dem, was drinnen vor sich hergeht“. Damit eignet sie sich auch die Kontrolle über jenes Blick-Regime wieder an, innerhalb dessen sie so viele Jahre in einer Art Starre festgehalten wurde.

In „Augen machen“ tangiert Gertrude Maria Grossegger viele Fragen, die gesellschaftspolitische Aktualität besitzen: Was machen einschneidende, traumatische Erfahrungen mit einer Person? Wie kann man*frau das Unbeschreibbare in Worte fassen? Mit wem kann sie*er darüber sprechen? Und wo findet sie*er in solchen Situationen Halt?

In dem inneren Dialog ihrer Figur verwebt Gertrude Maria Grossegger jene vexierbildhafte Zwei- und Uneindeutigkeiten, die die möglichen Antworten auf diese Fragen prägen. Denn eine eindeutige, klare Antwort gibt es nicht. Dementsprechend changiert die Erzählung beständig zwischen Innerem und Äußerem, Unheimlichkeit und Geborgenheit, Abscheu und Anziehung, Vergessen und Erinnern und bedient sich dabei einer ausdrucksstarken Bildsprache, die das Bewusstsein der Protagonistin überzeugend und berührend nachzeichnet. So eröffnet der Text ein sorgfältig komponiertes, vielstimmiges Zwiegespräch zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Form und Inhalt, Text und Leser*in, das auch, nachdem das letzte Wort gesprochen (bzw. gelesen) ist, noch lange nachklingt.

Zum Abschluss möchte ich mich bei meinen Jurykolleginnen Christa Gürtler, Barbara Neuwirth und Brigitte Schwens-Harrant bedanken, ebenso wie bei der Frau Ava Gesellschaft für Literatur, insbesondere bei deren Obfrau Mag. Alice Klein, die diesen Literaturpreis im Namen der ersten Dichterin in deutscher Sprache seit nunmehr 20 Jahren ausschreibt und vergibt. Mein Dank geht außerdem auch an Inge Cevela für Ihre koordinatorische Unterstützung, sowie allen Anwesenden hier für Ihr Kommen. Vor allem aber danke ich Ihnen, liebe Gertrude Maria Grossegger, für Ihren beeindruckenden, eindringlichen Text. Im Namen der Jury darf ich Ihnen herzlich zum Frau Ava-Literaturpreis 2021 gratulieren!



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